19. November 2015

LMV April 2013: Individuelle und Bestmögliche Entwicklung für alle!



Wir leben in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt. In Deutschland werden nicht nur die beliebtesten Autos der Welt gebaut, auch in der Energiewende sind wir Vorreiter. Nur eines schaffen wir nicht: jedem Menschen die Möglichkeit zur Entwicklung zu geben, die für ihn oder sie am besten ist. Deshalb fordert die Grüne Jugend Hessen:

1. Ein integratives Schulsystem mit echter Wahlfreiheit und individueller Förderung
Jeder Mensch lernt unterschiedlich schnell, hat unterschiedliche Bedürfnisse und Fähigkeiten. Das muss bei der (Aus)Bildung berücksichtigt werden.
Das Prinzip des momentan vorherrschenden gegliederten Schulsystems ist ein Überbleibsel aus dem 19ten Jahrhundert und baut auf dem Prinzip der drei Begabungstypen auf. Solch eine Einteilung ist für uns längst überholt! Es steht für uns außer Frage, dass Menschen unterschiedliche Begabungen haben. Zentral dabei ist aber, wie man mit den unterschiedlichen Begabungen umgeht, sie individuell fördert und miteinander gestaltet. Deshalb brauchen wir integrative und ganztägige Gesamtschulen, in denen Kinder länger gemeinsam miteinander und voneinander lernen und nur in einzelnen Fächern in verschiedene Kurse eingeteilt werden. Dies würde nicht nur die frühe Selektion nach der vierjährigen Grundschulzeit vermeiden, sondern auch Benachteiligungen aufgrund der sozialen Herkunft verringern.
Solange wir allerdings noch mit einem dreigliedrigen Schulsystem arbeiten, bedarf dies einer stärkeren Durchlässigkeit innerhalb unseres Bildungssystems. Schüler*innen müssen bei entsprechenden Fähigkeiten leichter auf einen höheren Bildungszweig wechseln können.
Dazu benötigen wir auch eine echte Wahlfreiheit zwischen G8 und G9, die von den Kindern und Lehrer*innen gemeinsam entschieden wird und weniger von den Wünschen der Eltern beeinflusst ist.
Zur individuellen Förderung innerhalb des Schulsystems gehört außerdem, dass die Wiederholung einer Klasse möglich bleibt. Um dies zu verhindern muss das Kind durch kostenlose Nachhilfe und individuelle Förderung unterstützt werden. Kein Kind sollte bei der Bewältigung des Unterrichtsstoffes alleine gelassen werden. Um das zu ermöglichen Bedarf es nicht nur kleinerer Klassen, sondern vor allem mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte.

2. Den individuell bestmöglichen Abschluss
Nicht jeder junge Mensch muss und soll studieren. Ein akademischer Abschluss oder die Qualifikation für ein Hochschulstudium soll nicht Ziel des Bildungssystems sein. Im Gegenteil: Deutschland braucht mehr praktisch Tätige und Berufsaktive statt noch mehr Studierende. Die Universitäten platzen trotz des demografischen Wandels aus allen Nähten und immer mehr junge Menschen tragen sich an den Hochschulen ein. Aber ist das wirklich die beste Entscheidung für jeden Einzelnen? Die vielen Studienabbrecher*innen stehen hier nicht nur den fehlenden Studierenden der MINT-Fächer sondern vor allem auch dem Mangel an gut ausgebildeten Handwerker*innen und anderen Ausbildungsberufen entgegen. Ausbildungen müssen attraktiver gestaltet und besser vergütet werden. Der Wert eines Menschen soll niemals durch einen Bildungsweg bestimmt sein!
In einem Punkt haben wir bereits ein sehr durchlässiges System: fast jede*r kann auch durch eine Ausbildung eine Hochschulzulassung erhalten. Der Weg „Ausbildung – Meister – Studium“ ist heute keine Seltenheit mehr und sollte auch in der Öffentlichkeit stärker publik gemacht werden, denn eine Ausbildung kann in vielen Fällen besser Aufschluss über die eigenen Stärken geben, als die reine Theorie.

3. Zeit und Raum für Berufswahl und Orientierung
Allzu häufig werden Jugendliche durch das Bildungssystem gedrückt, ohne die Möglichkeit erhalten zu haben, sich persönlich und beruflich zu orientieren. Hierzu muss in erster Linie ein ausreichendes Informationsangebot an den Schulen geschaffen werden. Dazu sollte nicht nur die Kooperation mit Universitäten und Ausbildungsbetrieben innerhalb von Berufsorientierungswochen verstärkt werden, sondern zudem eine hochwertige individuelle Berufs- und Studienberatung an den Schulen eingeführt werden. Diese soll jeden einzelnen Jugendlichen bei der (Berufs-)Orientierung unterstützen und Alternativen aufzeigen. Zudem sollten mindestens zwei Schülerpraktika, nicht kürzer als vier Wochen, über einen längeren Zeitraum verpflichtend sein.
Die berufliche Orientierung ist aber nur die eine Seite der Medaille. Darüber hinaus soll die Schul- und Ausbildungszeit auch der persönlichen Entwicklung dienen. Kindern und Jugendlichen soll dafür Zeit und Freiraum geschaffen werden, die sie sich individuell gestalten können. Dabei sollte auf Eigenverantwortlichkeit vertraut und anregende Angebote geschaffen werden. Gleiches soll auch für das Studium gelten. Wir sprechen uns dafür aus, dass die Studiengänge weniger verschult und dafür stärker interdisziplinär angelegt sind. Auch hier soll den Studierenden die Möglichkeit gegeben werden, sich zu entwickeln und zu orientieren. Bildung ist mehr als reines Lernen und Wissensproduktion!

4. Echte Chancengleichheit fängt im Bildungssystem an
Studien der vergangenen Jahre beweisen, dass Schüler*innen aus bildungsfernen Verhältnissen und/oder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem besonders benachteiligt sind. Aufgrund ihrer Organisationsstruktur, ihrer Regeln und ihrer Kommunikationsformen (oder auch: „ihrer Normalitätserwartungen“) sind Kindergärten und Schulen an der Verfestigung sozialer Unterschiede höchst aktiv beteiligt. So werden beispielsweise vorrangig homogene Lerngruppen gebildet und deutsche Sprachkenntnisse werden zum Indikator von Lern- und Leistungsvermögen, insbesondere an den im gegliederten Schulsystem angelegten Selektionsstufen. Kinder mit Migrationshintergrund und/oder aus bildungsfernen sozialen Schichten werden damit von Beginn weniger Chancen für eine erfolgreiche Schullaufbahn eingeräumt.
Bisherige politische und pädagogische Strategien im Umgang mit sprachlicher und soziokultureller Vielfalt greifen zu kurz. Deshalb fordern wir den Abbau von frühzeitigen Selektionsstufen im Bildungssystem sowie eine sozialkulturell-vielfältigere Zusammensetzung der Lerngruppen. Durch ein integratives Gesamtschulwesen wäre dies besser möglich. Zentrale Herausforderung wird hierbei die Sprachförderung sein. Ein Sprachdefizit von Kindern mit Migrationshintergrund und/oder aus bildungsfernen Schichten muss durch individuelle Förderung ausgeglichen werden während gleichzeitig Mehrsprachigkeit an den Schulen praktiziert werden sollte. Entsprechende kontinuierliche Fortbildungsmaßnahmen müssen für Lehrkräfte angeboten werden.
Momentan ist ein Sprachdefizit Ausschlusskriterium für den Besuch eines Gymnasiums. Als Grüne Jugend Hessen fordern wir nicht nur ein entsprechendes Sprachförderungsangebot, sondern zudem den Ausgleich durch entsprechende Leistungen in anderen Fächern.
Kinder mit Migrationshintergrund werden bei einem Defizit in Deutsch oft als benachteiligt angesehen. Dabei wird verkannt, dass diese Kinder bereits eine Sprachkompetenz in ihrer eigenen Muttersprache besitzen, die aber ihnen aber im Schulsystem nicht angerechnet wird. Ganz im Gegenteil zum späteren Berufsleben: Kulturelle Kompetenzen werden in Zeiten von Globalisierung immer mehr zu Kernkompetenzen.
Im Schulsystem jedoch ist ein multikultureller Hintergrund ein Nachteil. Wir wollen, dass durch Wahlpflichtkurse auch Muttersprachen von Kindern mit Migrationshintergrund angeboten wird. Damit wird die kulturelle Herkunft von Kindern mit Migrationshintergrund gewürdigt und ihnen die Chance gegeben, den kulturellen Hintergrund als Vorteil zu nutzen. Darüber hinaus eröffnet es außerhalb von Pflichtkursen den freiwilligen Austausch über Kulturen unserer Mitmenschen und gibt auch anderen Kindern die Möglichkeit, Sprachen ihrer Mitschüler*innen zu lernen.

5. Schluss mit Machtkämpfen auf dem Rücken der Bildungspolitik!
Bildungspolitik darf nicht dazu genutzt werden, parteipolitische Machtkämpfe auszutragen. Die offensichtlich existierenden, unterschiedlichen Vorstellungen des bestmöglichen Schulsystems werden in den Ländern bei jedem Regierungswechsel neu demonstriert. Im schlimmsten Fall bedeutet dies eine Kehrtwende in der Schulpolitik alle fünf Jahre, mit allen Konsequenzen für Kinder, Eltern und Lehrer*innen. Damit muss Schluss sein.
Ein föderales System ist für viele Fragen die richtige Antwort. In der Schulpolitik aber ist das absolute Kooperationsverbot vor allem vor dem Hintergrund der gestiegenen Mobilität nicht mehr in ursprünglicher Form zeitgemäß. Bund und Länder müssen sich gemeinsam bemühen, die Kompatibilität und Anerkennung der Bildungsabschlüsse zwischen den Ländern zu gewährleisten.

6. Reform der Lehrausbildung und gerechte Bezahlung hessischer Lehrkräfte
Der Beruf des*der Lehrer*in hat sich gewandelt. Ein*e Lehrer*in ist nicht mehr nur Vermittler*in von Unterrichtsstoff, sondern hat vordergründig die Aufgabe, junge Menschen zu kritischem, autonomem und mündigem Denken und Handeln zu befähigen, sowie für das Lernen zu begeistern und Ihnen in einer Welt voller Informationen den Zugang zu Wissen und die selbständige Aneignung von relevanten Inhalten zu vermitteln.
Nicht jede*r ist als Lehrer*in geeignet. Deshalb soll mehr Praxisbezug in den Lehramtsstudiengang eingebaut werden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass sowohl die Lehrer*innen als auch die Schüler*innen von Schulsozialarbeiter*innen unterstützt werden, um der alltäglichen Belastung Stand halten zu können.
Es ist nicht nachvollziehbar, dass sich die Lehrer*innenbesoldung ausschließlich nach Art der Schulformen richtet. Die Ungerechtigkeit durch diese Regelung kommt vor allem in Gesamtschulen zum Ausdruck, wo Real- und Hauptschullehrer weniger Geld erhalten als Gymnasliallehrer, obwohl die gleichen Klassen unterrichtet werden. Da wir langfristig das Netz der Gesamtschulen Stärken und ausbauen wollen, muss auch die Bezahlung der Lehrer entsprechend angepasst werden.
Darüber hinaus hat sich der Lehrer*innenberuf gewandelt, es steht nicht mehr die reine Wissensvermittlung im Vordergrund, sondern immer stärker auch ein Erziehungs- und Integrationsauftrag, der in Haupt- und Realschulen stärker sein kann als in Gymnasien. Eine Bevorzugung der Bezahlung von Gymnasiallehrern ist deshalb nicht nachzuvollziehen. In einer Reform der Lehrer*innenbesoldung müssen deshalb sowohl die Zugangsvoraussetzungen als auch die tatsächlichen Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer berücksichtigt werden.



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