18. November 2021

LMV November 2021: Verantwortung in Afghanistan übernehmen – Menschenleben retten!



Die Lage in Afghanistan war bereits bei Abzug der internationalen Truppen dramatisch, seitdem ist sie noch um ein Vielfaches schlimmer geworden. Die
Taliban kontrollieren das Land und schränken die Rechte der Bevölkerung immer weiter ein. Amnesty International berichtet von Menschenrechtsverletzungen in
Afghanistan seit Abzug der internationalen Truppen: Die Rechte von Frauen und Mädchen werden unterdrückt, Menschen, die für die afghanische Regierung
gearbeitet haben, werden bedroht und getötet, auch Familien von Geflohenen erhalten Todesdrohungen. Amnesty International wirft den Taliban weiterhin vor,
durch die Tötung von 13 Mitgliedern der Hazara-Minderheit ein Kriegsverbrechen begangen zu haben.

Gleichzeitig bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Schon jetzt mangelt es an Essen, Trinkwasser, medizinischer Versorgung und auch die Stromversorgung
wird immer knapper. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind laut UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen, 93% der Haushalte haben nichts zu essen. Die
Grundversorgung steht vor dem Zusammenbruch. Diese Situation wird sich mit dem kommenden Winter noch verschärfen. Afghanistan steuert in eine Katastrophe und
die Welt sieht zu.

Die Zeit, zu handeln, ist jetzt! Die Bundesregierung hat nach 20 Jahren Stationierung deutscher Soldat*innen eine Verantwortung für die afghanische
Gesellschaft!

Der überhastete Abzug der Truppen warf in Deutschland viele Fragen auf. Für viele Afghan*innen kommt er einem Todesurteil gleich. Die Evakuierung ist viel
zu spät begonnen worden, dadurch konnten nur ein Bruchteil derjenigen ausgeflogen werden, die in Afghanistan unter den Taliban in Lebensgefahr
schweben. Menschen, die für deutsche Institutionen und Organisationen gearbeitet haben, haben sich darauf verlassen, dass sie von Deutschland geschützt werden.
Diese Menschen wurden nun im Stich gelassen.

Nur ein Bruchteil der Menschen, die Anrecht auf Schutz durch die Bundesregierung hatten, wurde evakuiert. Dabei ist schon die Anzahl der Schutzberechtigten stark
eingeschränkt: Nach den Plänen der Bundesregierung haben viele der sogenannten Ortskräfte gar kein Anrecht auf Schutz in Deutschland, etwa wenn ihr
Arbeitsvertrag vor mehr als zwei Jahren endete oder sie einen Vertrag mit einem Subunternehmen hatten. Zusätzlich mussten die Ortskräfte eine konkrete Bedrohung
nachweisen, was sich verständlicherweise für viele als sehr schwierig gestaltete. Schon das ist ein politischer Skandal und eine humanitäre
Katastrophe. Auf der Liste der besonders schutzwürdigen Personen stehen nur etwa 2.600 Menschen, mit Berücksichtigung der Kernfamilien erhöht sich die Zahl auf
etwa 6.600 Personen. Diese sogenannte Menschenrechtsliste ist mittlerweile geschlossen, auch jenen, die sich offen den Taliban widersetzt haben, räumt die
Bundesregierung nun kein besonderes Recht mehr ein.

Doch selbst für diejenigen, denen die Bundesregierung Schutz gewähren will, erfolgte die Evakuierung nur teilweise, weil sie viel zu chaotisch und zu spät
vorgenommen wurde. Wir fordern, dass dieses politische Versagen der Bundesregierung aufgearbeitet wird! Dafür hat die Grüne Bundestagsfraktion
bereits im September einen Antrag gestellt, der dafür sorgen sollte, dass keinerlei Akten zu diesem Thema vernichtet werden können, wie es in der
Vergangenheit schon so oft passiert ist. Dass die Große Koalition diesen Antrag abgelehnt hat, beweist, dass hier kein echtes Interesse an einer Aufarbeitung
vorliegt. Nach der Bundestagswahl haben sich die Mehrheitsverhältnisse jedoch geändert. Die neue Bundesregierung muss die Aufarbeitung des Afghanistan-
Einsatzes insgesamt und der Evakuierung insbesondere forcieren!

Zunächst muss allerdings alles darangesetzt werden, so viele Menschen wie möglich so schnell wie möglich zu evakuieren. Auch wenn die militärische
Evakuierung nicht weiter durchgeführt wird, sind Evakuierungen weiterhin möglich. Die Initiative Kabulluftbrücke evakuierte durch Charterflüge und auf
dem Landweg auch nach Abzug der internationalen Truppen weiterhin Menschen aus Afghanistan und auch die Bundesrepublik evakuierte seitdem 1300 Menschen (Stand
18.10.21). Diese Zahlen sind jedoch viel zu niedrig. Es existieren verschiedene Zahlen dazu, wie viele Afghan*innen akut schutzbedürftig sind, aber eines ist
sicher: Zehntausende Afghan*innen fürchten um ihr Leben. Einer Politik der Abschottung und des sich-aus-der-Verantwortung-stehlens stellen wir uns klar
entgegen! Wir sagen deutlich: Wir haben Platz! Wir haben die Möglichkeiten, die Kapazitäten und den Willen, schutzsuchende Menschen aufzunehmen und sie auch
menschenwürdig zu behandeln.

Deshalb fordern wir:

  • Die Evakuierungen auszuweiten, um so viele Menschen wie möglich in Sicherheit zu bringen! Alle Ortskräfte, egal welche Art von Arbeitsvertrag
    sie hatten, müssen evakuiert werden, sofern sie dies wünschen. Nach jahrelanger Stationierung deutscher Soldat*innen in Afghanistan hat die
    Bundesregierung aber auch eine Verantwortung für viele weitere Menschen, die nun in Gefahr schweben: die Familien der Ortskräfte,
    Menschenrechtler*innen, Bürgermeister*innen, LGBTIAQ* und viele weitere müssen ebenfalls so schnell wie möglich evakuiert werden!
  • Die Wiederöffnung der Menschenrechtsliste. Die Evakuierung gefährdeter Personen darf nicht an einer verpassten Deadline scheitern!
  • Die Wiederaufnahme der Luftbrücke und die sofortige Evakuierung so vieler Menschen wie möglich. Unabhängig der Priorisierung müssen so viele
    Evakuierungsflüge wie möglich durchgeführt werden.
  • Ein Visa-on-arrival-Verfahren. Die Rettung von Menschenleben darf nicht an der Bürokratie scheitern!
  • Sofortige Katastrophenhilfe für Menschen in Afghanistan und in den angrenzenden Ländern. Die sich anbahnende humanitäre Katastrophe muss
    verhindert werden!
  • Ein sofortiges Ende der Kriminalisierung von Flucht nach Europa. Die Abschottung der EU lehnen wir klar ab! Den Staaten, die auf den
    Fluchtrouten aus Afghanistan liegen, muss signalisiert werden, dass die EU bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Hierfür müssen auch bilaterale
    und multilaterale Abkommen mit den Anrainerstaaten von Afghanistan geschaffen werden, um gefährdeten Afghan*innen eine Flucht zu ermöglichen.
  • Für Afghan*innen, die sich in Deutschland aufhalten, müssen Perspektiven geschaffen werden: Wir fordern einen sofortigen und dauerhaften
    Abschiebestopp nach Afghanistan und in andere Länder. Wir lehnen die Ausrufung Sicherer Herkunftsländer ab, Asyl ist ein persönliches
    Menschenrecht, das individuell geprüft werden muss und nicht pauschal beantwortet werden kann.

 

Beschlossen am 07.11.2021 auf der Landesmitgliederversammlung in Frankfurt.



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