LMV Oktober 2010: Environmental Justice NOW! – Umweltpolitik weiter denken
Umweltpolitik ist schon jetzt nicht länger ein Nischenthema, sondern mittlerweile Querschnittsaufgabe in allen Teilbereichen der Politik. Auch wenn die Koalitionen in Bund und Land das Rad gerade Richtung Steinzeit zurückdrehen – die Gesellschaft ist weiter und hat die Priorität von gemeinwohl-orientierter Umweltpolitik längst erkannt. Umweltpolitik nach unseren Vorstellungen ist auch immer die Vermeidung von umweltbedingten Gesundheitsrisiken und die Behebung von sozial ungleich verteilten Umweltbelastungen.
In unserem Grundsatzprogramm formulieren wir unseren Anspruch an eine zukunftsfähige Umweltpolitik wie folgt:
„Ein wichtiger Baustein einer gewinnenden Umweltpolitik ist der Faktor Lebensqualität. Umwelt- und Naturschutz vor der eigenen Haustür fördert die Lebensqualität, denn sie gestaltet unsere Lebensräume, in der Stadt wie auf dem Land“.
Lebensqualität bedeutet für uns nicht nur sich wohl zu fühlen, sondern auch von äußeren Einflüssen unabhängig gesund leben zu können und nicht nur, weil man es sich nicht anders
leisten kann, ein Dasein unter schwerwiegenden umweltbezogenen Gesundheitsrisiken zu fristen. Die Debatte um „Umweltbezogene Gerechtigkeit“ wird gerade im deutschsprachigen Raum außerhalb der Fachwelt wenig thematisiert. Doch auch in Deutschland nimmt die Aufmerksamkeit für die soziale Ungleichverteilung von Gesundheitsrisiken in jüngerer Zeit zu, etwa durch den Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts. Auch die soziale Ökologie, als Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen, die die Auswirkungen Umwelteinflüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse untersucht, wird immer mehr nachgefragt und wird in Zukunft noch einen erheblich größeren Stellenwert bekommen. Dennoch wird gerade in Kommunen zu wenig an der Implementierung einer Strategie gearbeitet.
In den USA wird „umweltbezogene Gerechtigkeit“, im Gegensatz zu Deutschland, seit den 80er Jahren als Problem im Grenzbereich von Umwelt-, Sozial und Gesundheitspolitik stark
diskutiert. Gesellschaft und Politik diskutieren dort die sozial und räumlich ungleiche Verteilung von Umweltbelastungen, die zu ungleichen Gesundheitsrisiken bei davon
betroffenen Bevölkerungsgruppen führt. Grund hierfür ist die mögliche krankmachende Wirkung vieler Umwelteinflüsse – von radioaktiven Fallout bis zu Lösemitteln, Verkehrslärm bis
Deponieabwässer, Teppichböden bis elektromagnetische Felder. Solche Umweltbelastungen sind sozial nicht gleich verteilt, sondern häufen sich bei/in benachteiligten Personengruppen
und Gemeinden bzw. Stadtvierteln. Beispiele:
• an Autobahnen und Schnellstraßen wohnen in der Regel einkommensschwache Personen; wer Geld hat, zieht weg
• Mülldeponien und Müllverbrennungsanlagen entstehen neu am Rand der Städte, aber regelmäßig weit entfernt von Wohngebieten der Besserverdienenden
• Fabriken, Kraftwerke, Tanklager und Raffinerien werden in speziellen Gewerbegebieten konzentriert, oft umgeben von Häusern und Schrebergärten „kleiner Leute“
• der Versuch in „besseren Vierteln“ Mobilfunksender aufzubauen, scheitert häufig am Widerstand der BewohnerInnen
• An- und Abflüge werden regelmäßig so geführt, dass sie Prominentenviertel möglichst wenig berühren.
Diese Beispiele finden sich auch in Hessen wieder. In Kassel sind es die einkommensschwachen Stadtteile, die überdurchschnittlich mit Verkehrslärm- und -schadstoffen in der Luft konfrontiert sind (Wesertor und Nord-Holland). In Korbach gibt es die obengenannte Müllverbrennungsanlage, deren Ausstoß von Stickoxiden oder Quecksilber die umliedende Bevölkerung verunsichert und schädigt. In Offenbach, Frankfurt oder Hanau sind es die Schrebergärten zwischen Industriepark und Autobahn oder Bahnstrecke. Und die Organisationsfähigkeit von ökonomisch Bessergestellten finden wir in Bad Homburg, die trotz des nahegelegenen internationalen Flughafens Frankfurt – im Gegensatz zu den anderen umliegenden Gemeinden – nicht von Fluglärm betroffen ist.
Für uns bedeutet diese Dimension von Umweltpolitik die soziale Komponente mit zu denken und alle Interessen zu berücksichtigen. Nicht nur die „pressure-groups“ derjenigen, die sich
Gehör verschaffen, müssen berücksichtigt werden, sondern auch diejenigen die in der Gesellschaft keine Artikulationsmaschine finden.
Ziel unseres Verständnisses von Environmental Justice ist – gerade auf lokaler Ebene – die
• Verhinderung/Reduzierung der Entstehung neuer Umweltbelastungen
• Beseitigung vorhandener Umweltbelastungen nach dem Verursacherprinzip (im Ausnahmefall, falls der Verursacher nicht mehr greifbar ist, nach dem Gemeinlastenprinzip)
• gerechte Verteilung und Kompensation von nicht vermeid- oder eliminierbaren Umweltbelastungen auf verschiedene soziale Gruppen: vor allem soziale Schichten, ethnische Gruppen und BewohnerInnen verschiedener Regionen
• Gleichbehandlung verschiedener sozialer Gruppen bei Vermeidung, Feststellung, Sanierung und Entschädigung von Umweltbelastungen
Besonders wichtig ist die Beseitigung von vorhandenen Umweltbelastungen und die Verhinderung von neuen. Die Zeit der großen Infrastrukturprojekte und der energieverschwendenden Industrie ist längst vorbei. Die GRÜNE JUGEND HESSEN bekennt sich zu zur radikalem Schutz ihrer Umwelt zum Wohle aller und gerade für die sozialbenachteiligten Gruppierungen in unserer Gesellschaft.
Gerade Landkreise, Städte und Gemeinden stehen durch unsere Forderungen vor großen Herausforderungen. Die soziale Schere wird nicht länger nur zwischen sozialen Faktoren wie ökonomischer Herkunft und Bildungsgrad bemessen, sondern auch nach nicht immer sichtbaren ökologischen Faktoren. Wenn zum Beispiel, wie in Kassel, das Stadtklima durch die Ausweisung und Bebauung eines
neuen Gewerbegebietes (Langes Feld) bedroht ist, darf Politik ökonomischen Interessen der ökologischen Verantwortung gegenüber keinen Vorrang einräumen, sondern muss sich von diesem Großprojekt verabschieden und die Stadträume dezentral und umweltschonend erschließen. Bevor solche Projekte überhaupt diskutiert werden können, muss es in Zukunft genaue Auskünfte über bereits bestehende Umweltbelastungen geben. Die Zusammenlegung der Aufgabenbereiche von Gesundheitspolitik und Umweltpolitik hat in Frankfurt am Main zum Beispiel dazu geführt, dass zumindest durch eine strukturierte Berichterstattung, die bisher unzureichende Datenlage zu sozial ungleich verteilten Umweltbelastungen und Gesundheitsrisiken behoben wird. Diesen Ansatz sollten die hessischen Kreise und Kommunen aufgreifen und weiterentwickeln, um in Zukunft dieser Ungerechtigkeit entgegenzutreten. Die GJH fordert auch die hessischen Grünen und die Landtagsfraktion dazu auf, in Zukunft Umwelt-, Sozial- und Gesundheitspolitik in dieser Dimension nicht länger getrennt voneinander zu denken und zu artikulieren, sondern Konzepte zu entwickeln, die diese Teilbereiche
vereinen. Leider hat die Landtagsfraktion bislang wenig neue Ansätze von zukunftsfähiger Umweltpolitik artikuliert. Für die Grünen ist es zu wenig, sich im Bereich der Umweltpolitik mit
den Themen Energie und Verkehr zu profilieren. Auch die anderen Dimensionen, die wir neben Naturschutz, Tierschutz, nachhaltiger Landwirtschaft u.a. um die Dimension der umweltbezogenen Gerechtigkeit ergänzen, müssen weiterhin starke Berücksichtigung finden. Die GJH fordert die hessischen GRÜNEN auf, diese Themen wieder mehr in den Vordergrund zu stellen.
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